Opferhaltung oder Selbstverantwortung

Opferhaltung oder Selbstverantwortung

In einem Wohnheim für Menschen mit Einschränkungen hat sich die Gemeinschaft ganz bestimmte Werte gegeben. Das Leitbild deklariert:

„Wir begegnen allen Menschen mit Respekt, Wertschätzung und liebevoller Zuwendung. Diese Aufmerksamkeit ist nicht nur Grundlage für die Betreuung der uns anvertrauten Menschen. Sie bereichert auch das persönliche Engagement der Mitarbeitenden und die Zusammenarbeit in den Teams.“

Klingt wunderschön! Doch plötzlich erscheinen diese Ideale in der Praxis ganz anders. Eine Kadermitarbeiterin erhält allmählich immer weniger die Informationen, die sie für die optimale Bewältigung ihrer Arbeit benötigt. Sie wird zunehmend in Dinge nicht mehr wie bis anhin einbezogen. Als sie arglos das Gespräch sucht, kommen ihr nur noch Aggressionen entgegen. Und von da an geht die Kommunikation von Seiten des direkten Vorgesetzten gegen null und sie wird geschnitten.

Respekt? Wertschätzung? Liebevolle Zuwendung?

All das ist nicht mehr zu erkennen.

Die klassische Mobbing-Situation

So oder so ähnlich zeigt sich eine klassische Mobbing-Situation. Die Rollen von Opfer und Täter sind verteilt.

Als „Opfer“ sucht man nun meistens Verständnis bei anderen Menschen und wünscht sich Solidarität. Man möchte jeden überzeugen, dass man an der ganzen Situation unschuldig, ein Sündenbock für irgendetwas oder eben das Opfer für was auch immer ist. Sich selber übergießt man mit reichlich Selbstmitleid und verharrt in seiner Opferrolle, da man ja „nicht Schuld“ an der Situation ist. Damit fühlt man sich auch nicht verantwortlich, etwas zu tun.

Opferhaltung

Doch was oder wem hilft diese nachvollziehbare und übliche Verhaltensweise?

Gefangen in der Opferrolle macht man sich abhängig vom vermeintlichen Verursacher dieser Situation und wartet darauf, dass sich von dieser Seite her etwas ändert. In aller Regel geschieht das aber nicht. Hierarchien werden aufrechterhalten. Das heißt, derjenige, der in der Hierarchie höher positioniert ist, findet meistens reichlich Unterstützung bei seinen übergeordneten Stellen.

Das ständige gedankliche Umkreisen der Situation und des Erlebten und das Festhalten an Erwartungen, die nicht erfüllt werden, zieht in eine Abwärtsspirale der Frustration. Zunehmend gehen die erlebten Ereignisse tiefer in die Gefühlsebene hinein. Subjektiv wird die Situation dadurch immer schlimmer, kränkender und verletzender empfunden. Mit der Zeit sitzt das „Opfer“ nur noch tief in seinem Ärger, seiner Traurigkeit, seiner Hilflosigkeit und seiner Verletzung. Dies lähmt enorm und nimmt schließlich völlig die Energie zum Handeln.

Es ist nicht so, dass ich den offensichtlichen Verursacher dieser Situation in Schutz nehmen möchte.

Kein Mensch hat das Recht, einen anderen Menschen respektlos zu behandeln und mit Aggressionen zu überschütten.

Aber eine Opferhaltung bringt demjenigen, der unter einer solchen Situation leidet, höchstens kurzfristig etwas Entlastung durch das Mitgefühl anderer. Längerfristig gehen oft Wochen und Monate wertvoller Lebenszeit durch das Hadern mit dem Erlebten und die Lähmung durch die Situation verloren.

Das Aufgeben der Opferhaltung

Doch was ist die Alternative? Für mich ist das ganz klar der Weg von der Opferhaltung in die Selbstbestimmung.

Schon alleine die Erkenntnis, dass ich mich gerade in einer Opferhaltung befinde, kann Entlastung bringen. Die Gefühle der Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit und auch der Angst, wie es weitergehen mag, dürfen dabei alle sein. Ich darf sie annehmen genau wie die ganze Situation, die gerade nicht wie gewünscht verläuft. 

Für mich kommt dann aber schon bald der nächste Schritt. Einerseits frage ich mich, wo liegt mein Teil an der ganzen verfahren wirkenden Situation? Habe ich zu hohe Erwartungen oder zu wenig Verständnis für den anderen? Was könnte der Grund sein, dass sich eine Person plötzlich so verhält, nachdem die Zusammenarbeit zuvor jahrelang sehr gut gewesen ist?

Und was für mich noch viel entscheidender ist:

Was bedeutet diese Botschaft, die mir das Leben auf diese Weise schickt, für mich?

Scheinbar habe ich bisher etwas Wichtiges übersehen, dass der Wink mit dem Zaunpfahl so heftig ausfallen muss. 

Opferhaltung

Wertvolle Chancen

Weiter stellt sich daraus die Frage, welche Chancen ergeben sich für mich aus dieser Situation? Was darf ich Positives aus den Jahren zuvor und aus dieser tiefen Kränkung als wertvolle Lernerfahrung für mein zukünftiges Leben mitnehmen? Wie möchte ich mein Leben überhaupt in Zukunft gestalten?

Ja, genau jetzt ist die richtige Zeit für eine General-Bilanz. Verläuft mein Leben so, wie es mir gut tut? Oder sind inzwischen zahlreiche Träume, Wünsche und Visionen auf der Strecke geblieben? Schlummern in mir noch Fähigkeiten, die bisher nicht gefragt waren und von mir nicht beachtet worden sind?

Sich diesen Fragen zu stellen, lohnt sich sehr. Darin steckt enorm viel Potenzial für ein glückliches Leben in Selbstbestimmung. Mit dem Verlassen der Opferhaltung darf man darauf vertrauen, dass das Leben zahlreiche neue Wege öffnet mit tollen Möglichkeiten. 

Vielleicht ändert sich nun die Lebensgestaltung komplett. Aus der Selbstbestimmung heraus ist das jedoch eine Entscheidung, die sich gut und richtig anfühlt. Und darum geht es letztendlich im Leben. Jeder Mensch darf seinen individuellen und eigenen Weg finden und gehen, hinter dem er vollständig stehen kann und mit dem er sich wohl fühlt.

Mein Weg von der Opferhaltung in die Selbstbestimmung

Sicher hört sich das nun sehr einfach an. Das ist es nicht. Ich bin diesen Weg selber gegangen und es war ein langer Weg. Nach und nach habe ich meinen Weg gefunden. Inzwischen bin ich unglaublich dankbar, dass ich immer wieder geeignete Lebensenergiequellen gefunden habe, die mich weitergebracht haben. Ich bin heute sogar dankbar für die sehr schmerzhafte Situation, die mich komplett aus meinem bis dahin gut geordneten Leben geworfen hat. Ich habe den Weg zurück zu meinen Träumen und Visionen gefunden, nicht beachtete Fähigkeiten ausgegraben, meine Prioritäten anders gesetzt, einige Kompromisse aufgegeben und sehr, sehr viel über mich und das Leben gelernt. Von einer Opferhaltung habe ich mich komplett verabschiedet. Und ich kann sogar von Herzen verzeihen. 

Nun freue ich mich auf jeden neuen Tag und bin gespannt, welche Überraschungen und Geschenke das Leben immer wieder für mich bereit hält.

Von der Opferhaltung zur Selbstbestimmung

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